Der Titel stimmt nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir einen Namen dafür hatten. Wenn wir es doch irgendwie nannten, dann hieß es nicht „Öhrchen zählen“.
Die Handgeste, bei der man Zeigefinger und Mittelfinger V-förmig aus der Faust abspreizt, nennt sich Victory-Zeichen. Wenn man die Hand hinter den Kopf von jemandem hält, so dass nur die beiden abgespreizten Finger über dem Kopf sichtbar werden, kann man dies als Hasenohren interpretieren. Als ich in der fünften Klasse war, war das in meiner Alterklasse ein beliebter Scherz. Es gibt mehrere Fotos von Klassenfahrten, auf denen jemand einen Satz Ohren zu viel hat. Und immer sind es Jungs, die die Finger hinter dem Kopf eines Mitschülers oder einer Mitschülerin hochhalten.
Die Person mit den zusätzlichen Ohren wurde damit ein bisschen lächerlich gemacht. Ich würde es nicht Demütigung nennen. Dazu wurde es nur bei Schülern, deren sozialer Status sowieso gering war. Dann wurden die Öhrchen den anderen Demütigungen hinzugefügt.
In unserer Klasse wurde die Geste nach und nach verfeinert. Die erste Änderung war, dass die abgespreizten Finger nicht mehr unter Spannung standen, sondern lässig nach vorne gebogen waren. Dann kam das Zählen hinzu. Die beiden abstehenden Finger wurden rhythmisch nach unten gebogen. Je öfter das dem Scherzbold gelang, um so lustiger war es. So brauchte es auch keiner Kamera mehr, um jemandem die Öhrchen zu verpassen. Man hatte ja das Zählen.
Die- oder derjenige, der die Öhrchen angezählt bekam, konnte nur an der Reaktion der Umstehenden erkennen, dass etwas Ungewöhnliches vorging. Irgendwie schauten einen die Mitschüler seltsam an. Mit der Zeit lernte man, in so einem Fall zuerst nach schräg hinten zu schauen, ob da nicht ein Junge mit erhobenen Arm stand. Für den Zählenden war es wichtig, dass das der oder die Veralberte irgendwann die Attacke bemerkte, ansonsten verpuffte die Wirkung. Der Arm wurde immer schwerer und das triumphierende Lächeln immer verkniffener. Notfalls schubste der Zählende sein Opfer ein bisschen, um ihn auf seine Rolle hinzuweisen.
Das ist eine der schöneren Erinnerungen aus meiner Schulzeit.