Im April 2011 berichteten mehrere Medien über Manuel Segovia (damals 75) und Isidro Velazquez (damals 69), die letzten lebenden Sprecher einer Sprache namens Ayapaneco. Die Herren leben nur wenige hundert Meter voneinander entfernt in dem Dörfchen Ayapa, Tabasco, Mexico.
Und sie wollen nicht miteinander reden.
Ich weiß nicht, ob das immer noch so ist. Aber ich weiß, dass es Menschen gibt, die gemeinsam in einer Wohnung wohnen und nicht miteinander reden. Manche davon sind miteinander verheiratet. Und reden nicht miteinander.
Ich bin ja eher einfach gestrickt. Kommunikative Finessen entgehen mir häufig. Selbst klarste Andeutungen laufen bei mir fast immer ins Leere. Gottseidank habe ich eine Die Schönste Frau geehelicht, mit der ich folgendes vereinbaren durfte: Es gilt nur das direkte, gesprochene Wort.
Beispiel 1
Was gedacht wird: „Jemand müsste den Müll runter bringen.“
Was ich verstehe: —
Wie ich reagiere: —
Beispiel 2
Was gesagt wird: „Jemand müsste den Müll runter bringen.“
Was ich verstehe: „Jemand müsste den Müll runter bringen.“
Wie ich reagiere: Ich bestätige/bestreite, dass jemand den Müll runter bringen müsste — mündlich oder durch Kopfnicken oder Kopfschütteln.
Beispiel 3
Was gesagt wird: „Bring bitte den Müll runter.“
Was ich verstehe: „Bring bitte den Müll runter.“
Wie ich reagiere: Ich bringe den Müll runter.
Durch das Praktizieren der direkten, gesprochenen Kommunikation bin ich freilich völlig ungeübt in der komplexen Kunst der Andeutung. Das führte zu einem schweren Missverständnis mit einer zu Besuch bei uns weilenden Verwandten.
(zur Mittagszeit)
Sie: „Hast Du Hunger?“
Ich: „Nein.“
Daraufhin war unsere Verwandte sichtlich bestürzt. Die Schönste Frau konnte die Situation jedoch auffangen. Später klärte sie mich über den nicht ausgesprochenen Kontext des Gesprächs auf, worin sie durch jahrelange Übung in die Lage versetzt worden war.
Und zwar hatte die Verwandte selbst Hunger. Wollte aber zeigen, wie sehr sie sich auch um mich sorgte und erkundigte sich nach meinem Hunger. Indem ich „Nein“ sagte, hatte ich nicht nur ihre Sorge um mich brüsk zurück gewiesen, sondern auch mein völliges Desinteresse an ihrem Befinden ausgedrückt. Ich versuche mal eine Übersetzung unserer Konversation:
(zur Mittagszeit)
Sie: „Ich habe Hunger, will aber nicht nur an mich denken, und will Dir außerdem zeigen wie wichtig Du mir bist, und dass ich mir Sorgen darum mache, dass Du auch genügend isst und wenn Du auch Hunger hast könnten wir zusammen essen, und ich könnte Dich zum Essen einladen — ich würde mich sogar in Eure Küche stellen und uns etwas kochen, damit es Dir nur gut geht.“
Ich: „Ich will kein Essen von Dir. Hör sofort auf, Sorge um mich zu heucheln. Das ist mir schon immer auf die Nerven gegangen. Sogar schon, bevor wir uns kannten. Ich kann Deine Anwesenheit nur mit Mühe ertragen. Außerdem interessiert es mich nicht die Bohne, wie es Dir geht. Wenn Du Hunger hast, geh‘ doch in die Armenküche — und selbst das ist noch viel zu gut für Dich. Zudem kannst Du gar nicht kochen. Das ist allgemein bekannt, und wenn nicht, dann erzähle ich es jedem, der es hören will. Du bist fett und hässlich. Ich hasse Dich.“
Nach diesem kommunikativen Unrat noch einmal zum Vergleich die Konversation, wie ich sie verstanden habe:
(zur Mittagszeit)
Sie: „Hast Du Hunger?“
Ich: „Nein.“
In Folge dieses Erlebnisses versuche ich bei jeder Kommunikation mit unserer Verwandten — ob per Mail, am Telefon oder bei persönlichen Treffen — wiederzugeben, was von ihrem gesprochenen Wort bei mir angekommen ist. Immerhin werden meine unbeholfenen und ausnahmslos völlig fehl gehenden Deutungsversuche mild lächelnd ignoriert — wenn ich den Gesichtsausdruck richtig deute.